Man sieht nur, was man weiß!

Dieser kluge Satz geht auf Goethe zurück (Eigentlich: „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“) Wir kennen den Sinnspruch vor allem von unserem langjährigen Ausbildungsleiter Eckard Zurheide. Eine gute Ausbildung schärft unsere Wahrnehmung, erfüllt uns mit Aufmerksamkeit und Respekt.
Wie sehr Vorkenntnisse und Erfahrungen unsere Wahrnehmung beeinflussen, konnten wir auf unserer diesjährigen Studienreise in die Normandie wieder einmal erleben.
Im Mittelpunkt stand Le Havre, eine Stadt aus Beton, die touristisch wenig aufgesucht wird und eigentlich auch nicht für Restauratoren im Handwerk interessant sein sollte. Wenn wir aber nur schon wissen, dass das Stadtensemble zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, werden wir schon aufmerksam und schauen genauer hin. Tatsächlich haben wir Vergleichbares noch nicht gesehen: eine Mischung aus Bauhaus und Klassizismus, moderner Sachlichkeit und dekorativer Reminiszenz. Klare Formensprache, breite Boulevards, Symmetrie, Gesimse, Säulen, fein dosierte Ornamentik. Jedes Gebäude findet sich im anderen wieder und ist doch einzigartig. Weiteres Wissen lässt uns noch mehr sehen. Le Havre wurde 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt und im September 1944 von der britischen Luftwaffe fast völlig zerstört. Eine Rekonstruktion kam nicht mehr in Frage. Die französische Regierung gab dem Architekten August Perret den Auftrag, die Stadt nach einem Masterplan neu zu errichten. Dabei entstand die neue Stadt aus den Ruinen der alten. Der Schutt wurde nach Farbe und Struktur sortiert und unter Beimischen von Glassplittern, Kies und Sand ergaben sich unterschiedliche Betonoberflächen. Somit ist die alte Hafenstadt dreifach in der neuen vertreten: als Bauschutt im Beton, als nuancierte Farbgebung (beige, gelb, rosa, goldbraun u.a.) und in den zentralen historischen Straßenverläufen.
Einen ganz anderen Eindruck verschaffte uns Rouen, eine Stadt mit mittelalterlichem Flair, mit Kopfsteinpflaster, gotischen Kirchen und rund 2000 Fachwerkhäusern im normannischen Stil. Als wir aber erfuhren, dass die Hauptstadt der Normandie im Zweiten Weltkrieg zu 50% zerstört wurde, schauten wir noch genauer hin, um zu sehen, was an der Stadt mittelalterlich und was rekonstruiert sein könnte.
Ganz anders wirkte auf uns die eigentlich malerische Hafenstadt Honfleur. Sie war touristisch so überlaufen, dass wir uns im Disneyland wähnten. Mit dem Wissen, dass die alte Hafenstadt im Zweiten Weltkrieg keinen Schaden erlitt, schärfte sich wieder unser Blick für die authentische Originalsubstanz.
Es ist gut, wenn wir mit Sachverstand und Wertschätzung immer wieder den Blick frei bekommen für das, was da ist. Und es ist besonders schön, wenn das dann auch im Austausch mit Gleichgesinnten auf einer Studienreise erfolgt.

Stefan Kloss, Restaurator im Malerhandwerk

Das Programm in Kurzform

  • Die Stadt Le Havre mit ihrer einzigartigen Nachkriegsarchitektur nach den Plänen des Architekten Auguste Perret (UNESCO-Weltkulturerbe!)
  • Fécamp – die Hafenstadt an der Alabasterküste mit dem Palais Bénédictine. Palast, Museum und Likörfabrik in einem.
  • Rouen als Hauptstadt der Normandie mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern und den zahlreichen Fachwerkhäusern im normannischen Stil.
  • Die malerische Hafenstadt Honfleur mit St. Catherine, der größten Holzkirche Frankreichs.
  • Bayeux, die beschauliche Kleinstadt mit ihrem berühmten 70 m langen Wandteppich aus dem 11. Jahrhundert
    sowie ein kurzer Abstecher zum Landungsstrand der Alliierten am D-Day.

Impressionen

Le Havre

Nachkriegsarchitektur nach den Plänen des Architekten Auguste Perret.

Weiterführende Informationen zum Beton-Poeten Auguste Perret findet ihr hier
Das Meisterwerk des Beton-Poeten
500 Jahre Le Havre

 

Fécamp

Der Palais Bénédictine – ein Prachtbau im Stil der Neugotik und Neurenaissance. Palast, Museum und Likörfabrik in einem.

Rouen

Mittelalterlicher Flair, Kopfsteinpflaster, gotische Kirchen und rund 2000 Fachwerkhäuser im normannischen Stil. Rekonstruiert oder tatsächlich mittelalterlich?

Honfleur

Eigentlich eine malerische Hafenstadt – doch touristisch überlaufen. Dafür aber viel authentische Originalsubstanz.

Bayeux

Die Kleinstadt mit 2000-jähriger Geschichte und der besonders sehenswerten gotischen Kathedrale Notre-Dame.

Fotos © Stefan Kloss, Björn Toelstede, Daniela Clever